Ziemlich genau vor einem Jahr habe ich zusammen mit Oliver Beckenhaub und der Unterstützung meiner Firma das Open Device Lab Frankfurt ins Leben gerufen.

Dem voraus gegangen war die Teilnahme an mehreren (Web)Design Konferenzen mit internationalen Referenten, sowie meine eigene Beobachtung, dass sich die Benutzung des Webs seit zwei, drei Jahren unaufhaltsam weg bewegt von der bis dahin dominierenden Kombination "Mensch sitzt vor Rechner und kuckt auf einen Bildschirm, hin zu "Mensch hat internetfähiges Gerät unbekannter Größe und Kapazität und benutzt es, wo es ihm (oder ihr) gerade am besten passt".

Das klingt jetzt etwas flapsig, aber die Konsequenzen daraus für Konzeption, Gestaltung und Realisierung von webbasierten Kommunikationsprojekten -- oder, wie es allgemein auch gerne genannt wird, Webseiten, sind enorm.

Open Device Lab Frankfurt Webseite

"Das Web" wurde seit locker zehn Jahren durch eine ihm eigentlich nicht angemessene Sichtweise betrachtet und behandelt: Aus gestalterischer Sicht wurde über Jahre versucht, die Prinzipien und Erkenntnisse für "klassische" Drucksachengestaltung (z.B. Proportionen, Lesbarkeit, Typographie und "Seitenaufteilung") anzuwenden. Dabei gaben sich alle am Entstehungsprozess Beteiligten einer gemeinsamen einvernehmlichen Täuschung hin: Es gibt eine Kontrolle darüber, wie letztlich "die Webseite" beim Benutzer ankommt. Weil sowohl die Tools, mit denen fast alle am Prozess Beteiligten arbeiten, als auch das "Endprodukt" auf dem gleichen Ausgabemedium stattfinden: Dem Desktop-Rechner. Ob Tabellenkalkulation oder Bildbearbeitungsprogramm oder Webbrowser – alles wird über den gleichen Bildschirm betrachtet und über Jahre hinweg waren diese Rechner mehr oder weniger ähnlich ausgestattet. Es gab zunächst die 15-Zoll-Monitore, dann 17-Zoll, dann 19-Zoll und erst ab dem Aufkommen erschwinglicher hochauflösender Flachbildschirme kam Bewegung in das bis dahin relativ einheitliche Format, auf dem "eine Webseite" betrachtet werden konnte.

Above The Fold

Völlig unbeindruckt davon, dass die Technologie hinter "Webseiten" eigentlich von Anfang an dafür gemacht ist, sich flexibel an die Ausgabegröße anzupassen (ich vereinfache gerade sehr stark), haben sich Entscheider und Designer über Jahre auf den althergebrachten Weg gemacht und zu allererst einmal ein End-Format bestimmt:
"Wie groß ist die Fläche, die der durchschnittliche Benutzer der Webseite 'sieht'?" "Wie breit ist die Webseite und wie hoch ist der (erstmal) sichtbare Bereich?"
Analog zum Papierformat und der Frage, was man bei einer zusammengefalteten Zeitung zuerst sieht.

Die Antwort auf diese Frage war enorm wichtig, denn alle Tools wie zb Bildbearbeitungsprogramme oder Autorensysteme wollen zu allererst vom Anwender wissen, wie groß die Fläche, die Stage, die Canvas, mithin das Format ist, auf dem ab dann gearbeitet werden soll. Klassische Layoutprogramme, Präsentationsprogramme; alle fragen erstmal nach der Größe der Arbeitsfläche.

Da ist es nur natürlich, dass diese Frage auch für ein eigentlich flexibles Medium am Anfang gestellt und beantortet wird, zumal die Entscheidung für ein bestimmtes Format neben der Einschränkung vor allem auch Kontrolle bedeutet. Zeilenbreiten und Schriftgrössen hängen unmittelbar zusammen, wenn man Lesbarkeit berücksichtigen will. Proportionen, das Verhältnis von positivem und negativen Raum, das sind fundamentale Bausteine von Gestaltungssystemen und über Jahrhunderte hinweg sind diese entwickelt und verstanden worden, weil die zur Verfügung stehenden Kommunikationsmedien ein bestimmtes Format hatten. Papierformat. Plakatformat. Buchformat, Postkartenformat - vom Gestaltungsprozess bis zum fertigen Produkt ändert sich in der Regel daran nichts mehr. Selbst im Bewegtbildbereich, der zunächst (hey, Bildschirm) als Vorläufer der "interaktiven Medien" herangezogen wurde, gibt es eine definierte Größe (auch hier vereinfache ich, PAL, SECAM, 4:3, 16:9, Full Scan etc pp sorgen auch dort für Kopfzerbrechen).

Es ist sehr naheliegend und verständlich, warum "Webseiten" also auch in feste Rahmen gesperrt wurden: Ob 640x420, 800x600, oder zuletzt die fast magischen 920x600px - je weiter sich die "Bildschirme" der Privat- und Büro-Rechner entwickelten, um so größer wurden diese "Formate", auf denen man "Webseiten" gestaltet. Und mit was "gestaltet" man diese? Mit Layout- oder Bildbearbeitungsprogrammen, die aus der Desktop-Publishing-Ära stammen und hey, eigentlich sind "Webseiten" ja auch nichts anderes als "unsere Broschüre", nur halt mit Verlinkungen drin, oder?

Diese über Jahre eingespielte Arbeitsweise, die ermöglicht, dass sich Kunden mit Grafikern zusammen anhand von Bildern von Webseiten darüber einig werden können, wie die Webseite auszusehen hat und sich danach "nur noch" jemand suchen müssen, der es ihnen dann eben so "programmiert" – diese Arbeitsweise funktioniert nicht mehr, weil sich die Bedingungen, unter denen Menschen diese "Webseiten" benutzen, nicht mehr vorhersehen lassen.

Es gibt eine Meldung aus dem letzten Jahr, wonach Facebook täglich ca 7000 unterschiedliche Kombinationen aus Webbrowser, Ausgabegeräte und Betriebsysteme auf ihrer Webseite registrieren und alleine der Aspekt der Größe des Bildschirms (der nur einer von vielen ist, die das Nutzungserlebnis des Besuchers bestimmen) variiert dabei von Breiten im niedrigen hunderter Pixel Bereich bishin zu ultrahochauflösenden Screens mit tausenden von Pixeln - viel Spaß beim Beantworten der Frage: "Wie groß ist den nun die Webseite?"

Jedenfalls ist mir und anderen, die wie ich nun schon seit Mitte der 90er Jahre mit "Webseiten"Gestaltung zu tun haben, klar geworden, dass die Zeit der Kontrolle vorbei ist. Es gab die letzten Jahre, gerade auch mit dem Aufkommen des iPhones und der iPads, wieder Versuche, Formate zu bestimmen (iPhone: 320px x 480px, iPad: 1024x768), aber selbst wenn man alle anderen Marktteilnehmer ignoriert, wurde das spätestens mit Erscheinen der "Retina"Displays, die bei gleicher physikalischer Größe eine viel höhere Pixeldichte verwenden, obsolet.

Die Frage, wie man mit der unüberschaubaren Vielfalt der Geräte und Situationen, mit denen und innerhalb derer Besucher nun mit "Webseiten" interagieren, umgeht, ist nicht mehr beantwortbar. Für manche ist die Entscheidung, es zu ignorieren, für andere, native Apps zu entwickeln, aber für mich ist der Weg klar:

Go With The Flow

Man muss gestalterische Kontrolle im Vorfeld abgeben zu Gunsten der sowieso schon vorhandenen Flexibilität des Mediums.

Darüber kann man ganze Bücher schreiben und das wird nun auch den Rahmen dieses Posts sprengen, aber Stichworte dazu sind: Progressive Enhancement und Responsive Web Design. Ich bin überzeugt, dass daran kein Weg vorbei führt, aber der Weg ist momentan noch sehr steinig, denn:

Es geht nicht darum, eine bestimmte Theorie oder Technologie einzusetzen, es geht um eine fundamentale Änderung im Prozess, wie "Webseiten" entstehen. Auch hier wieder nur Stichworte (Agile vs Waterfall) und ein Link auf einen Artikel von Brad Frost, mit dem ich genau dazu letztes Jahr in Freiburg ein sehr interessantes Gespräch hatte.

Boah, fast tausend Worte und Zeit, wieder zum eigentlichen Thema dieses Beitrags zu kommen:

Das Open Device Lab

Weil, wie ich hoffentlich übertzeugend darlegen konnte, statische "Screens" - Bilder von Webseiten - keine Entscheidungsgrundlage mehr sein können, um "Webseiten" zu planen und zu verkaufen, müsssen "Webseiten" schon in der Konzept- und Gestaltungsphase in ihrer natürlichen Umgebung beurteilt werden und dazu braucht es Geräte, Geräte und noch mehr Geräte.

Dumb-Phones, Smart-Phones, Tablets, Phablets, Laptops, Gamekonsolen - mit all diesen Geräten werden "Webseiten" besucht und auch wenn man vieleicht die ein oder andere exotische Kombination eher vernachlässigen kann - eine Webseite sollte die Besucher da abholen, wo sie ankommen und auch wenn vielleicht nicht das letzte i-Tüpfelchen in der Gestaltung transportiert wird, sollten die funktionalen und kommunikativen Ziele und Inhalte beim Besucher ankommen.

Und das heisst: Testen, testen, testen und zwar schon am Anfang, in der Ideenphase und nicht erst am Ende, wenn es "nur noch programmiert" werden muss.

Das stellt uns Web Worker vor das Problem: Wo bekomme ich eine einigermassen repräsemtative Menge von Testgeräten her? Die wenigsten von uns können es sich leisten, andauernd neue (oder auch alte) Geräte zu kaufen und es ist auch ein Hase/Igel rennen, denn es kommen ständig und immer schneller neue Geräte auf den Markt.

Und hier setzen die Open Device Labs an: Wie wäre es, wenn sich Hersteller, Web Designer, Kunden zusammentun und Geräte in einem gemeinsamen Poll zur Verfügung stellen, auf denen jeder testen kann? Fast jeder hat mittlerweile webfähige Geräte irgendwo rumliegen, bevor diese Staub ansetzen, gebt sie einem Open Device Lab.

Mittlerweile gibt es weltweit um die 70 Open Device Labs und fast täglich macht ein neues irgendwo auf. Auf opendevicelab.com kann man sich einen guten Überblick verschaffen.

Im Kanutenwald

Die "Community" - die meisten Open Device Labs sind eine Art Selbsthilfegruppe :-) ist sehr motiviert und aktiv, und so langsam bekommt das Thema auch mehr Sichtbarkeit ausserhalb der Szene. Aber es gibt noch viel zu tun, denn zum einen ist es schwierig, ein "offenes", nichtkommerzielles, auf Gerätespenden und Leihgeräte basierendes Lab rechtssicher zu etablieren, zum anderen wird die Idee des freien Austauschs und der "Sharing is Caring" Charakter im so genannten "professionellen Umfeld" auch eher mit Stirnrunzeln betrachtet und die Frage, wer kann denn wie und wie lange sich mit den Geräten austoben ist auch noch nicht 100%ig beantwortet.
Aber bevor man das alles komplett verkopft und dann gar nicht macht: lieber erstmal machen und schauen was daraus wird - das ist der Spirit, der dahinter steht, denn aus dem Bauch heraus gedacht ist das Open Device Lab eine sehr sehr gute Idee. Weil viele, die sich in diesem Jahr mit der Idee auseinandersetzen, ähnliche Probleme und Überlegungen haben, gibt es Ende dieses Monats das erste "Open Device Lab Admin Meetup", wo ähnlich wie bei Asterix im Kanutenwald sich die Betreiber von Open Device Labs sowie am Thema Interessierte im Rahmen der Nürnberger Webweek treffen. Und wenn schon mal alle vor Ort sind, kann man ja auch gleich eine kleine Konferenz machen, dachten sich Joschi Kuphal vom ODL Nürnberg und Marc Thiele vom ODL Düsseldorf, und so gibt es am Tag vor dem Meetup die "border:none" Konferenz, wo unter anderem auch Jeremy Keith als Referent spricht, der die Idee der Open Device Labs vor anderthalb Jahren als einer der ersten in die Tat umsetzte. (Moment, Konferenz, Marc Thiele, hmm... war da nicht was? - Genau. Der Marc. Der wo da so schon seit dem letzten Jahrhundert Konferenzen organisiert.)

Nicht ganz unstolz bin ich, dass wir unsere Überlegungen, wie man das Verhältnis zu Leihgebern und Gerätenutzern in unserem Open Device Lab regelt, die wir zusammen mit unserem Anwalt (ja, das ist Deutschland, da haste ne einfache Idee und willst keinem wehtun,. aber trotzdem brauchste nen Anwalt… :-)) Veit Reichert erarbeitet haben, im Rahmen einer Session auf dem Meetup vorstellen werden.

Ich freue mich, mit dem Open Device Lab ein Teil einer doch größeren Sache zu sein und bin gespannt, was da alles an Ideen und Austausch stattfinden wird. Nicht zuletzt durch die Beschäftigung mit dem Lab hat sich mein Selbstverständnis über meine Qualifikation und Arbeit, aber auch mein kompletter Denkansatz und der Workflow verändert, was einerseits sehr spannend ist, andererseits aber auch echt anstrengend. :-))

The Red Pill

Bei vielen Anfragen und Vorbesprechungen, gerade, wenn ich nicht direkt mit Kunden zu tun habe, sondern mit Agenturen zusamme arbeite, habe ich das Gefühl, dass ich, ähnlich wie Neo in Matrix, die rote Pille geschluckt habe und nun nicht mehr Teil der oben beschriebenen gemeinsamen Illusion bin - "die anderen" zu überzeugen, wird aber erschwert, da eine komplette Branche gerade massiv im Umbruch ist und es noch keine ausgetretenen Pfade gibt, auf die man sich begeben könnte.
Ergo sind Vertrauen, Kooperation und ein gemeinsames Arbeiten unerlässlich - und genau das wird sehr oft im "Dienstleisungs"bereich nicht erwartet oder honoriert. Es soll ja "nur noch umgesetzt" werden. Aber sorry Leute, so funktioniert das mit dem Web und mir nicht mehr.

Spätestens durch die "Mobile Explosion" ist das Web als eigenständiges Medium angekommen, und Leute, die wie ich schon seit Jahrzehnten darin und damit arbeiten, sind fucking nochmal weit mehr als "nur die Umsetzer".

Es ist Design, Baby.

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