Liebes Tagebuch,

heute ist ein merkwürdiger Tag. Während die anderen Kinder brav zur Arbeit oder sonstwohin gehen, stehe ich viel früher auf als normalerweise, und fahre raus aus der Stadt. Jetzt ist es ja so, dass seit kurzem mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten lebt, ich also nunmehr nicht mehr dieser hippen Elite angehöre, sondern zu schnödem Mainstream verkommen bin. Dem muss Abhilfe geschaffen werden, deshalb begehe ich Stadtflucht und kehre ebendieser den Rücken.

Hm. Das hört sich toll an, aber in Wahrheit habe ich nur einen Termin in einer Autowerkstatt weit weit weg von zu Hause (warum? fragt nicht, ich sach nur mal Preis/Leistung...) und bin deshalb morgens um kurz vor acht schon unterwegs auf der A3 Richtung Limburg. Wenn ich mir den Stau auf der anderen Seite so anschaue, dann war das eine gute Idee, stadtauswärts zu fahren. Der Streik der Lokomotivführer hat da bestimmt auch einiges zu beigetragen.

Um kurz nach neun bin ich also in einem Vorort von Limburg, übergebe mein Auto in die Hände von verkaterten Menschen in Blaumännern und darf es "so um zwei" wieder abholen. Hooray, ein ganzer Vormittag Zeit, um die Weltmetropole Limburg kennenzulernen! Ich erschleiche mir wortgewandt und mit Engelszungen einen anderen Wagen (mit dem ich allerdings nicht wieder bis zurück in den Heimatmoloch fahren soll...), und fahre also munter über Stock und Stein, Berg und Tal in das Herz der Domstadt.

Das Wetter, nunja ist, örm, durchwachsen. Bedeckt bis nieselig, ab und an ein kurzer Regenschauer - perfekt also, um einen Bummel durch die malerische Altstadt zu unternehmen. Nicht. Egal. Harter Kerl der ich bin, gebe ich alles und schleiche mehr oder weniger einsam zwischen den alten Gemäuern umher. Erstmal bergauf halten, weil bergauf ist der Dom, der Dom ist cool und vor allem hat er ein Dach - das erscheint mir angesichts des weinendem Himmels durchaus erstrebenswert. Ich komme exakt 10:15h auf dem Dom-Hügel an - und justamente um 10:15h beginnt ein Gottesdienst und der Dom ist erst wieder um 11h für Besucher geöffnet.

Angesichts der Hunde und Katzen Journalisten Katzen, die es in dem Moment regnet, überlege ich, ob ich kurzerhand zum katholischen Glauben übertreten soll, entscheide mich aber dann doch dagegen und lenke meine Schritte wieder hinab Richtung Altstadt. Sehr zum Gefallen des (offenbar nicht katholischen) Wettergottes, denn es hört dirket auf zu regnen, ja es zeigt sich sogar die Andeutung von Sonnenschein. Solcherart beschwingt, schleiche ich also einmal mehr durch die Gassen der pittoresken Altstadt, in der es ausser mir nur schlechtgelaunte Rentner und aufgedrehte Schulklassen auf Ausflug zu geben scheint. So langsam frage ich mich, was ich mit dem langen Vormittag hier so anfangen soll - mittlerweile bin ich schon zum dritten Mal am gleichen Platz vorbeigekommen, obwohl ich mir sicher bin, dass ich jedesmal eine andere Gasse, die von dort wegführt, genommen habe. Strange.
Auch begegnen mir ständig die gleichen Gruppen (schlechtgelaunte Rentner und aufgedrehte Schulklassen, ich erwähnte das, glaube ich, schon). Die Läden und Cafés am Wegesrand sehen auch nicht sonderlich einladend aus, sie richten ihr Angebot eindeutig an eine andere Zielgruppe, als ich es bin. Kurzer Blick nach oben; der lokale Wettergott scheint mir noch gewogen, also beschliesse ich, den neueren Teil der Stadt mal in Augenschein zu nehmen. Langsam reift in mir der Plan, ein gemütliches Internetcafé zu finden und dort eine Stunde oder zwei zu verbringen - mit Internet und Kaffee, haha.

Ich wandele also Richtung weg von der Altstadt, laufe durch verkehrsreiche Durchgangsstraßen, entlang von merkwürdig hässlich-funktionalen Parkhäusern und Einkaufsläden. Je näher ich dem Bahnhof komme, umso mehr Internetläden entdecke ich, aber obwohl dort an den Scheiben "Internetcafé" steht, gibt es drinnen eher Lebensmittel und Krimskrams, und von Gemütlichkeit ist da keine Spur - nenee, das gefällt mir nicht.

Also wandere ich weiter und komme vorbei an einer ziemlich surrealen Szene: Ein Mädchen mit bauchfreiem giftgrünen Top und enger Jeans steht vor einem Haufen nassgeregneter Büromöbel, beim Näherkommen entdecke ich neben/hinter ihr eine weitere Frau, diesmal in blauer Uniform - sie sieht so aus als wäre sie vom Ordnungsamt. In dem Moment, als ich an ihnen vorbeigehe, sehe ich, dass die uniformierte Latexhandschuhe trägt und aus einer nassen Schublade eines Schreibtisches eine Spritze mit aufgesteckter Kanüle herauszieht. Das ist genauso skurril wie die Situation gestern früh, als ich auf dem Weg zum Büro auf einer breiten Straße, in einem Stück, wo man nur ziemlich langsam fahren kann wegen der entsprechend geschalteten Ampeln, auf einmal zwischen den geparkten Autos an einem Ensemble bestehend aus: Feuerwehrwagen, Polizei, vielen herumstehenden Passanten, einem Fahrzeug auf dem Dach liegend und einem weiteren Fahrzeug in der Häuserfassade steckend, vorbei fuhr. David Lynch anyone?

Hm, egal, ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass gerade einmal eine halbe Stunde vergangen ist - und ich habe nun schon wieder die Altstadt erreicht. Uff. Das wird schwer, hier einen ganzen Vormittag zu verbringen. Viertel vor elf - bis vierzehn Uhr muss ich noch. Die Cafés sehen noch immer nicht einladend aus, also besorge ich mir in einem Zeitschriftenladen den aktuellen Spiegel und suche mir ein ruhiges Plätzchen. Auf der Rückseite des Doms, auf halben Weg dem Berg hoch, finde ich eine trockene Bank mit Blick auf die Lahn - na, so lässt sich das doch aushalten! Ich blicke im Wechsel also auf die Lahn, in den Spiegel, hoch zum Himmel, und das so ziemlich genau eine viertel Stunde lang - bis sich eine der aufgedrehten Schulklassen (erwähnte ich die?) mit Geschrei und genervt klingenden Lehrerstimmen von unten her ankündigt. Kapitulation (stimmt, ich wollte mir ja auch mal die neue Tocotronic anhören, fällt mir da gerade ein)! - Ich räume meine Bank und trete den Rückzug Richtung Dom an, der (mittlerweile ist es kurz nach elf) ja wieder für Besucher zugänglich ist.

Bevor ich aber in den Dom hineinkomme, passen mich zwei ziemlich verloren wirkende Touristen aus Spanien ab, die gerne ein Foto von sich und dem Dom im Hintergrund haben wollen. Die Lichtverhältnisse werden schlechter (anscheinend ist der lokale Wettergott nicht nur nicht katholisch, sondern offenbar ausgesprochen heidnisch - es sieht sehr sehr sehr nach Regen aus), aber ich knipse die beiden mit ihrer Digitalkamera, auch wenn ich glaube, dass auf dem Bild nicht allzuviel zu erkennen sein wird. Sie freuen sich und ich gehe weiter Richtung Dom. Mir kommen vier Schüler entgegen, die wohl gerade im Dom waren - und alle haben so schwarze Todesmetallband-T-Shirts an und sie unterhalten sich über "Du Antichrist" und so'n Zeug.

Endlich drinnen im Dom; toll. Ich schaue mir alte Grabplatten und Altäre an, lasse die Architektur auf mich wirken und versuche, soweit es geht, den oberlehrerhaften Vortrag einer Frau im Ornat, die eine Führung gibt, auszublenden. Einmal zucke ich zusammen, als auf der Wand, bzw. dem Wandbild, welches ich gerade im Mittelschiff betrachte, ein heller roter Laserpunkt erscheint. Die Wahrscheinlichkeit, von Scharfschützen im Limburger Dom gestellt zu werden ist relativ gering, dachte ich mir, und richtig, es war nur eine weitere Führung, die sich allerdings schon im ersten Stock, direkt gegenüber von diesem Bild, befand. Andächtig folgten die Blicke der Geführten dem Laserpointer des Vortragenden, der gerade das Wandbild erläuterte.

Ich bleibe so ca. eine halbe Stunde im Dom, dann wird es mir fad und ich gehe wieder hinaus. Zwanzig vor zwölf, und beim Wettergott bin ich nun unten durch: Der Himmel öffnet seine Schleusen, und ich sprinte duch die Altstadt zum erstbesten Café.

Ziemlich durchnässt, schnappe ich mir einen der Plätze (die kurz darauf sehr rar werden, weil kübelweise schlechtgelaunte Rentner einzug ins Café halten (wo wohl die aufgedrehten Schulklassen sind?)) und ordere einen großen Milchkaffee, damit mir keiner den Platz mehr streitig machen kann. Jetzt zeigt sich, dass die Anschaffung des Spiegels vorhin garnicht so blöd war - so kann ich in die weite Welt des gedruckten Wortes abtauchen, genüsslich den (sehr leckeren) Milchkaffee schlürfen und auf besseres Wetter warten.

Das will sich aber so garnicht einstellen, sodass ich eine weitere Tasse ordere, sowie ein Stück Streuselkuchen. Streuselkuchen ist sowas wie der Aussenseiter in der Auslage des Cafés - hier gibt es r.i.c.h.t.i.g.e Torten. Die sehen alle so aus, als würden sie problemlos das Kampfgewicht um 33% pro Biss steigern, Respekt. Ein Blick in die Karte belehrt mich, dass ich mich bei der Flucht vor dem Regen in die "älteste Baumkuchenbäckerei" Limburgs eingenistet habe. Hm. Jetzt steht mir der Sinn aber so garnicht nach Baumkuchen, deshalb der Streuselkuchen, auch wenn ich dafür einen ziemlich abwertenden Blick der Bedienung in Kauf nehmen muss. Während ich also den Spiegel lese, Streusel auf meinem T-Shirt verteile und notgedrungen den Familien- und Krankheitsgeschichten der drei Damen am Tisch nebenan zuhöre, vergeht die Zeit. Langsam. Sehr Langsam. Und draussen sieht es auch nicht gerade so aus, als würde sich der Wettergott alsbald mit mir aussöhnen wollen.

Auf einer meiner Runden zuvor hatte ich ein Internetcafé entdeckt, das an einen Computerschrauberladen angeschlossen ist, und das, obgleich sehr nüchtern, doch wesentlich symphatischer wirkte, als die Gemischtwarenvariante der Läden am Bahnhof. Es reift der Plan, die noch verbleibenden neunzig Minuten dort zu verbringen. Gerade als ich zahlen will, klingelt mein Handy. Ich glaube, Bombenalarm hätte ähnlich gewirkt in dem gesetzten Café - mein Handy hat als als Klingelton ein Mashup aus Nikka Costas "On And On" und Jimi Hendrix' "Foxy Lady", und beginnt halt mit einem fetten Gitarrenriff - sehr zur Unfreude der Gäste in meiner Nähe. Ein bisschen peinlich ist mir das schon, aber nun ist der Klingelton eh schon in den Cafébrunnen gefallen, also kann ich auch drangehen und sitzenbleiben. Normalerweise bin ich jemand, der nach draussen geht, wenn er in einem Laden angerufen wird, aber die Rache des Wettergotts ist fürchterlich und so bleibe ich sitzen. Am Telefon ist - die Autowerkstatt. Leider verkünden sie nicht, dass der Wagen überraschenderweise schon fertig ist (was ich insgeheim erhoffte), nein, sie wollen sich nach meinem Befinden erkundigen (sehr nett) und fragen, ob ich statt um zwei auch erst um drei kommen könnte. Argh. Noch mehr Zeit zum Totschlagen in Limburg, der Stadt der schlecht gelaunten Rentner und aufgedrehten Schulklassen!

Mittlerweile deprimiert mich das Baumkuchen-Café. Die Bedienung hat zwar gewechselt, aber irgendwie haben alle die dort arbeiten tote Augen. Das geschäftmässige Lächeln erreicht noch nichtmal im Ansatz die Augen. Kein Wunder bei der Menge an schlecht gelaunten Rentnern und aufgedrehten Schulklassen (ja die haben mittlerweile auch das Café gefunden...)

So bin ich nun seit ca. einer dreiviertel Stunde im Internetcafé meiner Träume angekommen und berichte von meiner Expedition, deren (hoffentlich) letzte Stunde nun angebrochen ist. Draussen hört es gerade auf zu regnen (vielleicht hat jetzt jemand anderes aus der Wetterabteilung den Gott-Job übernommen) und ich überlege, ob ich sowas wie einen Plattenladen hier finde...

Die Hoffnung stirbt zuletzt!

Und: Es gibt einen Grund, warum jetzt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten lebt. Ich verstehe das nun.