Seit gestern abend steht die neue, große WordPress Version zum Download bereit.

Mit an Board ist das, was wohl eine Revolution im Bereich der Inhalts-Editoren werden soll:
Der neue Editor "Gutenberg".

WordPress möchte gerne alles, was an Inhalten auf einer Website auftauchen kann, in Form von frei arrangierbaren Blöcken verwalten. Alles ist ein Block - Absätze, Überschriften, Bilder, Medien… Gutenberg greift damit das auf, was bislang "Site Builder" Plugins wie der FusionBuilder oder der VisualPageBuilder (mehr oder weniger umständlich) bereitstellen, und gibt damit dem Redakteur sehr viel Freiheit über die Gestaltung und die Struktur der Inhalte, out of the box.
(Wer schon einmal das Resultat einer WordPress Seite, die mit einem der IchKannAlles Themes inklusive SiteBuilder gesehen hat, auf das IchKannAuchAlles Redakteure losgelassen wurden, kann sich vorstellen, dass sich die Freude darüber, dass dieses mächtige Instrument nun von Haus aus bereit steht, in Grenzen hält.)

Es gibt auch teils massive Kritik, was die Bedienbarkeit und Zugänglichkeit des Editors angeht, dass er eine Verschlechterung für Redakteure, die assistive Technologien einsetzen (müssen), bedeutet. Auch weil das Ganze nun auf Basis von React umgesetzt wurde, alles in JavaScript verpackt ist, was wohl für die dynamische Bedienbarkeit und das rumschubsen von Inhaltsbrocken zwingend nötig ist. Offenbar sind hippe JavaScript-Framwork-Bediener nicht unbedingt primär an der Qualität des HTML-Codes interessiert, den die Scripte an den Browser liefern, und das ist dann halt blöd, wenn assistive Technologie vor allem von semantisch korrekten Elementen und einer sauberen Struktur abhängig ist.

Gedanken sollte man sich machen, wenn populäre Theme / Plugin Entwickler solche Aussagen treffen:

We do feel that the new editing experience for WordPress is in the right direction, it is however, the delivery of this project that we do not agree with and we are not the only ones to feel this way. As a team, we have been closely monitoring the Gutenberg/WordPress 5.0 development cycle. This being necessary, because we have no control over the development of WP core, to ensure that we can deliver the an experience to our user-base that is as seamless as possible. Due to constant changes by the WP core team it has been very difficult for us to have anything prepared months in advance of the 5.0 release.

Unfortunately, Gutenberg is still not stable enough for full integration. Since it’s changing between each release (including the release candidates), there’s a chance that new compatibility issues will arise with the upcoming WordPress 5.0 release and with every subsequent 5.x update.
Of course, we will do our very best to keep up with these changes. When we can fix things ourselves, we do that immediately. Sometimes, we need tiny changes from Gutenberg side. Mainly, we may need new filters and hooks. Right now, we are facing several issues that will not work until addressed in WordPress:
- Translations of Gutenberg Reusable Blocks are not displayed
- Gutenberg Latest Posts block displays posts in all languages
- Gutenberg blocks created using ACF 5.8 are not translatable
WPML enjoys a large development team, so we can keep up with these rapid changes. Not all plugins and themes have this capacity, so it may take a little longer to adjust to Gutenberg.

Insgesamt entsteht der Eindruck, auch wenn man sich die Diskussionen und Issues im WP Gutenberg Github Repo so anschaut, dass WP 5.0 noch unbedingt in diesem Jahr erscheinen sollte, spätestens zum WordCampUS, und man dafür mit einem noch nicht ganz so ausgereiften neuen Editor an den Start geht. Vielleicht, weil man es bei der Größe der Aufgabe sowieso nicht auf Anhieb komplett richtig machen kann. Move fast, break things, und so. Amis halt. (Da hat man wohl den Bebo gehetzt, haha, scnr).

Ich bin hin- und hergerissen; einerseits macht das Arbeiten mit dem neuen Editor Spaß und kann in den Händen von jemanden, der sich mit Struktur und Gestaltung auskennt, auch coole Ergebnisse erzielen.
Andererseits sind, gerade, wenn man sich *eigentlich* und *primär* aufs Schreiben konzentrieren will, die automatische Zerstückelung in diese "Blocks", die dann frei rummgeschubst werden können, nervig.

Aus Entwicklersicht halte ich den Weg, die PHP-Dateien für eigene Blöcke nur noch als Container für JavaScript-Codes zu nehmen, auch eher so, hmnaja. Andererseits gibt es nun überhaupt den Weg, eigene schlanke Content-Elemente zu erstellen, wofür man früher recht umständlich mit ACF (Advanced Custom Fields) und/oder eigenen Meta-Boxen arbeiten musste.

Ich denke, man muss dem Ganzen noch Zeit geben -- allerdings verstehe ich es aus genau diesem Grund nicht, warum man den Gutenberg-Editor schon jetzt in den Core geholt hat. Ich bin mal sehr gespannt, wie viele (Legacy)Installationen nun im ohnehin sehr turbulenten Weihnachts/Jahresend Stress implodieren, weil die Admins das Update auf WP5.0 fahren, ohne sich vorher den nun als Plugin angebotenen "Classic" Editor zu installieren.

Interesting times, indeed.

Nachtrag 9.12.18:
Mittlerweile war das WordCamp US; auf Twitter kann man unter dem Hashtag #wcus u.a. die Reaktionen auf den 'State of the Word' Talk von Matt Mullenweg finden.

Anscheinend verfestigt sich der Eindruck, dass die Accessibility Problematiken als nicht so schlimm empfunden werden und viel der Kritik in Richtung 'lernt das Ding doch erst mal richtig kennen' deflektiert wird.

Nachtrag: Ich habe mir nun die Aufzeichnung des Talks angesehen, und daher den vorigen Absatz gestrichen.
Mein Eindruck ist, dass WordPress da wirklich gerade überzeugt ist, an einer Revolution, wie künftig Inhalte und Strukturen verwaltet werden, zu arbeiten. Und man ist sich bewusst, dass das nur Work-In-Progress sein kann, und man ist der Meinung, jetzt sei der richtige Zeitpunkt, das Ding zu launchen und so für eine große Adoption zu sorgen. Die dann wieder in Erweiterung und Verbesserung des Produkts fliesst.

Ja, ich finde es auch bedauerlich, dass der Fokus auf "visuell" liegt: visuelles Arrangement, drag-and-drop, visuelles Layout.
Genau damit liefert WordPress aber das, was vermutlich 90% der WP-Nutzer wollen: Mehr gestalterische Freiheit für "Dau" User.

Screenshot der Empfehlung von WordPress, als Nutzer assistiver Technologien bei Problemen den Classic Editor zu installieren

Damit manifestiert sich auch hier leider, dass Accessibility noch nicht als Markt erkannt wird, oder dass man weiterhin denkt, da seien nur "Nischen"nutzer betroffen und diese sind dann sowieso schon versiert genug, sich irgendwie - zb durch Installation des "Classic Editors" - zu helfen.

Dass das Ganze zu kurz gedacht und gesprungen ist, sieht man an den Diskussionen rund um die Accessibility-Issues im Gutenberg-Github-Repo.

Ich hätte es auch wesentlich revolutionärer gefunden, wenn WordPress den Fokus auf wirklich zugängliche Inhaltspflege gesetzt hätte und DAMIT dann die Latte für alle anderen CMS hochgelegt hätte, statt nun "nur" einen äusserst beeindruckenden Content-Builder zu pushen und sich auch backendseitig in den Javascript-Framework-Malstrom zu stürzen.

Ich bin sehr gespannt, was das alles für Auswirkungen auf andere CMS-Systeme haben wird und welche Lehren man daraus zieht.