Ha. Das Illustratoren-Ego hat seit langer Zeit und wider besserem Wissen einen dickeren Illustrationsjob angenommen, der, sagen wir mal, endterminherausgefordert ist. Aber das, was am Ende dabei rauskommen soll, die Zusammenarbeit mit den Menschen in der $agentur und der Einfluss, den ich auch auf die Story nehmen kann, haben mich sehenden Auges in die stress- und arbeitsreichste Phase seit Beginn der Coronasonderzeit laufen lassen.

Jedenfalls ist die Zeit so knapp, dass ich mit meinem Analog-zu-Digital Workflow, den ich normalerweise mache und in dem ich mich am wohlsten fühle, nicht fertig werden würde.

In der Skizzenphase und Ideenfindung brauche ich unbedingt einen Kopierer, und die Skizzen sind meistens zusammengeschnitten, vergrössert, verkleinert, montiert - halt so, wie es am schnellsten geht. Und was geht gleich zu Beginn, nach Auftragserteilung kaputt? Genau, das Multifunktionsgerät mit der Kopiereinheit. Also habe ich im ohnehin engen Zeitrahmen fast einen Tag verloren, um ein Ersatzgerät aufzutreiben. Alternativ hätte ich auch wie früher in einem Copyshop arbeiten können, aber nein, nicht wirklich. Der Kopierer und die Vergrößern/Verkleinern Funktion, das rapide sampeln und neu zusammensetzen - dazu brauche ich meine Ruhe und meinen Zeichentisch, die Layoutblöcke, die Stifte etc… alles das in der Gegend rumzutragen, nee.

Nach den Anlaufschwierigkeiten hat die Skizzenphase dann auch gewohnt gut geklappt und innerhalb eines (langen) Tages war die Bildstrecke über 24 Seiten abstimmbereit. Nach kleinen Änderungswünschen (bei Auftragsarbeiten gibt es immer Änderungen. Immer. Immer. Egal wie gut man sich vorher meint abgestimmt zu haben) kam die Freigabe, und mit ihr das Timingproblem. Normalerweise würde ich nun basierend auf den Skizzen analog mit Tuschepen oder Pinsel oder was auch immer dem gewünschten Strich entgegenkommt, die Strichzeichnungen machen. Dann auf den Scanner legen, einscannen, säubern und ab in Illustrator und die Dinger vektorisiert. Dann im Illustrator Farben und Hintergründe rein und fertig ist die Reinzeichnung. Gerade die erste Phase dieses Workflows, das Zeichen/Tuschen auf Papier, das ist eigentlich das, worauf es ankommt. Die Papiertextur, das Feedback der Stift- oder Pinselspitze (ja, auch der Geruch der Tusche)… darum Zeichne ich.
Aber: Für das aktuelle Projekt dauert das alles zu lange, und vor allem die Scannerei der einzelnen Tuschen.

Auftritt Grafiktablett.

Ich arbeite seit Jahren (Jahrzehnten?) hin und wieder mit Tablets, aber bislang immer nur nachgelagert; zum colorieren oder für Retuschen. Seit über einem Jahr habe ich neben meinem Wacom Intuos noch ein Cintiq 13HD, was ich genau dafür angeschafft habe - wenn ich mal eines schönen Tages Zeit und Muße habe, zu kucken, wie das so ist mit dem Digitalen Zeichnen (auch dieser nicht ganz ernst gemeinte Rant von der werten Kollegin Kiki [die ascheinend selbst dafür einen kleinen Shitstorm abbekommt] konnte mich nicht umstimmen, obwohl ich ähnliche Vorbehalte habe).

Naja, mit der Zeit, bzw eher mit der Muße war es nicht soweit her bislang, also mache ich nun genau das, was man halt so macht: Mitten in einem Job mit einer engen Deadline schwenke ich auf einen Prozess, in dem ich nicht wirklich sicher bin. Hey. Andere gehen Fallschirmspringen für den Kick. What could possibly go wrong?

Tablet aus dem Schrank geholt, abgestaubt, angeschlossen, und festgestellt, dass seit meinem Update auf MacOS Catalina die ganzen Treiber und Settings verstorben oder verschwunden sind. Okay, IT-Probleme, damit kenne ich mich aus, also weitere zwei Stunden weniger auf der Projekttimeline, danach läuft das Setup. Schon geil, ein dritter Bildschirm, und auf dem lässt sich auch noch zeichnen. Bissl klein vieleicht, ist so mein erster Gedanke. Aber immerhin 1080p, also 1920x1080 pixel, damit käme nativ 16 x 9cm @300DPI als Ergebnis raus… ein 29x21cm wäre mir zwar lieber, aber da der Kram sowieso vektorisiert wird, sollte das reichen.

Glücklicherweise habe ich mich ebenfalls letztes Jahr zähneknirschend dann doch in die Adobe CC Abo-Abhängigkeit begeben, glücklicherweise deshalb, weil die Adoberaner mittlerweile den Kyle von Kyle's Brush geschluckt haben - und so habe ich wenigstens die Pinselspitzen, mit denen ich seinerzeit schon mal rumgetestet hatte, wieder zur Verfügung, obwohl neuer Photoshop, neues System, neues Tablet am Start sind. Ich sag' ja, andere gehen Fallschirmspringen. Da will ich jetzt auch nicht maulen, dass ich die Brushes ja sowieso schon mal für teures angemessenes Geld gekauft hatte.

Striche, Texturen, Handschrift und Zeichnung auf dem Digitaltablet

Ich habe dann nochmal ein Stunde in Setup und Test der Pinselspitzen und Tablet- und Stift-Einstellungen investiert, und dann: Absprung!
Direkt über die Layout-Screenshots drübergezeichnet. Das "Feel" des Stiftes auf dem Glas des Tablets ist nicht mit dem Stift auf Papier zu vergleichen, aber die Ansprache auf Druck und Neigung ist erstaunlich gut zu kontrollieren und natürlich ist das "undo" auch durchaus nicht zu verachten.

Digitale Tuschezeichnung auf dem Bildschirm

Als Test habe ich die so zum ersten Mal direkt digital entstandene Strickzeichnung in den restlichen Workflow (Illustrator, Vektorisierung etc) reingekippt und dann das Endergebnis mit meinen früheren Zeichnungen verglichen. Fazit: Für "Job" ist das close enough. Klar sehe ich die Unterschiede, aber teilweise sehen Detais in der digitalen Variante sogar besser aus, weil der Verlust durch das Scannen entfällt. Der Look insgesamt ist fast identisch und ich habe ein gutes Drittel meiner eigentlich benötigten Zeit für dieses Resultat "eingespaart".

Deadline gerettet, neues Tool im Köcher. Geht doch.

Nachteil: Wenn sich das wirklich bewährt, brauche ich ein 16" Tablet. Das 13er ist zu klein. Irgendwas ist ja immer. Und wenn ich DANN mal Zeit und Muße habe, teste ich, ob und wie sich die Pinsel direkt im Illustrator verhalten, das wäre natürlich noch cooler, wenn dann auch der Vektorisierungsschritt entfallen könnte. Aber da habe ich so meine Zweifel.